ANDREAS NEUFERT

DIE STEINE, DIE BILDER UND DER FLUSS
Einige Gedanken zu den Wasser- und Lichtbildern von Werner Klotz

„…wenn du in allerlei Gemäuer hineinschaust,
das mit vielfachen Flecken beschmutzt ist,
oder in Gestein von verschiedener Mischung (…),
so wirst du dort Ähnlichkeiten mit diversen Landschaften finden,
( …) und sonderbaren Gesichtsmienen (…). Durch verworrene
und unbestimmte Dinge wird der Geist zu neuen Erfindungen wach.“

Leonardo da Vinci (vor 1519)

Früh morgens, wenn Werner Klotz bei einer seiner Fahrten an den XAZL-CHA kniehoch in das eiskalte Wasser steigt, wirft der Spiegel des Wassers noch die dunklen Schatten der Sherlock Tannen des Ufersaums zurück, der Birken und Sträucher, die ihre Köpfe über den Flussrand neigen, und bedeckt die Steine, die unbewegt am Grund des leise rauschenden Gebirgbachs ruhen, mit seiner quellenden Decke. Kaum hat sich sein Blick suchend in den Grund versenkt, eilt schon der Glanz des anbrechenden Tages zu Hilfe und ein lichtes Gewebe beginnt zu atmen, darin jeder Stein einen stets wechselnden Platz für das symphonische Kontinuum einnimmt, das mit den ersten Sonnenstrahlen sein Spiel aufnimmt.

Der Gang zum Fluss folgt der eigentümlichen Logik des Sogs, dem der schöpferische Mensch schon immer nachgab, wenn die eigenen Ausdrucksformen verbraucht schienen und er in den Räumen der unerschöpflichen Natur die eigene Elementarsprache wieder zu erlernen suchte, die er in der Welt des von außen gesteuerten Tuns verloren glaubte. Derweil sind es Urphänomene der menschlichen Wahrnehmung, zu denen uns eine eigentümlich beharrliche Sehnsucht immer wieder hintreibt, weil uns ein altes Wissen die Hoffnung zuflüstert, dass wir sie im allgegenwärtigen Quellen der Natur leichter finden, als in uns selbst, und dass sie uns dort wieder aufrichten und so die Schwingungen des Schaffens wiederbeleben mögen. In der Begegnung mit den Spiegeln der Flusssteine im irrlichterhaft bewegten Glanz der Wasseroberfläche wird diese Regeneration am Quellpotential der Bild- und Sprachwerdung in den Wasser- und Lichtbildern von Werner Klotz gleichsam zum Sinnbild erhoben.

Der Gebirgsfluss durchquert das alte Lebensgebiet der Squamish und Tsleil-Waututh Stämme nördlich der kanadischen Stadt Vancouver. Für die Squamish ist die Stelle im Fluss, in der Werner Klotz arbeitet, seit je ein KW‘ AYATSUT, ein Platz der inneren Reinigung. Im Fluss stehend, wenn sich die eisige Kälte des klaren Wassers langsam die Kapillaren emporarbeitet, muss sich jeder, der dieses betörende Bilderwasser durchwatet, losgelöst vom Vertrauten fühlen, den Lebensumständen und deren lärmenden Mühlen, und sich so dem immer komplementären Idealzustand des Schaffens annähern: nämlich im Wasser schöpfend einerseits zum Schweigen werden, zum reinen Atem, um damit das Vermögen zu rezipieren erlebbar werden zu lassen, und andererseits in sekundenschnelle fotografierend aktiv Bilder zu komponieren, sehend zu kreieren.

War es nicht Leonardo, der als vielleicht erster Künstler die dichterische Operation des Gestaltsehens für ästhetisch bedeutsam erklärt hatte? Leonardos macchia-Hinweis, amorphe Mauerflecken führten den Geist zur autonomen Bilderfindung, der Künstler agiere gleichsam als autopoetisches System, dass sein Du als Form im Formlosen, die Idee im Chaos der Sinneseinheiten erkenne, wurde in letzter Konsequenz allerdings erst in der Moderne zu einem bestimmenden Gestaltungselement. Die Surrealisten machten es sich zur Grundlage, ein Hans Arp aber auch ein Wolfgang Paalen, dem wir 1939 in den Gegenden Britisch Kolumbiens auf einer Expedition durch die Stammesgebiete der First Nations wiederbegegnen, die auch Werner Klotz immer wieder aufsucht. Allen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass jedes Gestaltsehen einen ideellen, einen zweiten Teil enthalten muss, der unabhängig von dem äußeren Sein abläuft, eine Art wachträumerisch empfundene Möglichkeitsfigur, die ihr reales Gegenüber noch nicht gefunden hat, die gleichsam erregt im Amorphen nach Entsprechung sucht.

In den Photographien von Werner Klotz sehen wir Steine, die am Grund des Wassers liegen und von oben, oder seitlich einfallendes Licht reflektieren. Und wir begegnen kunstvollen Formen in statu nasciendi, die in das, wie gemalte Spiel der Schlieren aus Lichtreflexen der Wasserhaut eingebunden sind. Es sind amorphe Formen, die an die Oberfläche des Lichts drängen, als wollten sie sich durch unser Sehen endlich als Gesichter verwirklichen, als mangle es gerade nur des Moments der Wiedererkennung, als klopften sie absichtlich noch wie unerkannte Wünsche am Tor unseres Bewusstseins, um ihr wahres Gesicht zeigen zu können. Manche sind schon weiter, andere liegen noch zurück in diesem Prozess, der ohne uns nicht stattzufinden scheint. Gesichtlichkeit. Das scheint unser tiefer Wunsch und ihr Ziel. Und die Brücke, auf der sie uns erreichen können, ist das Licht, die Farben und das überwältigende Spiel der Formen, die sich aus ihrer unwillentlichen Zusammenarbeit mit dem spiegelklaren Fluss des Wassers ergeben. Die Natur möge uns ihr Gesicht zeigen.

Wir sind, im Unterschied zu der indigenen Stammesbevölkerung, Analphabeten der Natur. Kaum etwas wissen wir noch von den Ähnlichkeiten zwischen den Formen und Verfahrensweisen, mit denen sie einerseits ordnend und erhaltend operiert und wir selbst anderseits, der wir uns ihr gegenüber glauben, wahrnehmend ihre Gestaltungen nachschöpfen, derweil wir doch auf geheimnisvoll gleiche Art auf dem Strahl des Lebendigen reisen. Die rigide Trennung dieser Bereiche, die einst durch Ähnlichkeiten, sinnlich erfahrbarer Korrespondenzen und unterschwellig koinzidierende Kräfte miteinander verschwistert waren, behindert etwas, das natürlicher kaum sein könnte: das analogische Bewusstsein. Denn das Naturgegenwärtige ist für unser Auge genauso bergendes Feld für das, was an Gesichtlichkeit und Nähebewusstsein schlummernd in uns wartet, wie es sich in den Formen der Natur als stets quellendes, rumorendes Potential für die Zukunft gebärdet. Von jeher bot die Natur dem Entfremdeten den Kompass zu den Quellen, in denen sich die Kräfte nach dem Möglichen ausrichten. Beide, Natur und Mensch, verfügen über ein unerschöpfliches Reservoir an Gesichts-und Gestaltvisionen. Bei den nicht-industriellen Ethnien gibt es den Zweifel nicht, der das Wesenhafte, das Gesichtliche eines Steins auf die reine Faktizität des Steinseins reduziert. Es gibt keine Trennung zwischen der Latenz, mit der die Natur durch den Stein zu uns spricht, und der Latenz, mit der wir dieser zarten aber machtvollen Stimme des Bildhaften antworten. Es gibt nicht einmal den Begriff für Natur als etwas vom Menschen unabhängig zu erfahrendes. In Wahrheit ist die Latenz eines der feingesponnenen Fäden, die alles Naturgegebene und -werdende miteinander vernetzt.

Steine, das sind für den Menschen die handgreiflichsten Vertreter materieller Konkretion. Ihre Dichtheit und Schwere scheint auf den ersten Blick keinen Raum zu lassen für die gegenmanifeste Welt der natura naturans, die vom unsichtbaren Noch-nicht durchwirkt ist. Ein Punkt der schicksalshaften Verwandtschaft wäre also unsere tiefe, irgendwo noch vorhandene Erinnerung, dass das Sichtbare nur ein verschwindend kleines Segment im Kreis der Wirklichkeit bildet, die, wie das kosmische Geschehen, zu einem viel größeren Anteil vom unsichtbar Möglichen dominiert und gestaltet wird. Fünfmal so viel Dunkle Materie und fünfzehnmal so viel Dunkle Energie wirken im Kosmos an der Seite der realisierten Materie, wie wir sie kennen. Die Steine im Fluss sinken durch das explosive Gemisch aus Wasser und haltsuchenden Lichtquanten, das sie umspült, in eine Zwischenform zurück, als mischten Wasser, Licht und Materie erneut ihre Karten. Was bei diesem Spiel für das Auge abfällt, sind grandiose Einblicke in die grenzenlos sich erweiternde Welt der Identitäten, der Durchlässigkeit des Du. Materie und Licht in ihrer reinsten Form als Du ansehen zu können trifft einen wunden, ja leidenden, sehnenden Punkt in uns, weil die moderne Lebenswelt die feinen Spuren der Empfindung des Anderen als Spur des eigenen Ichs durch die Überpräsenz des Faktischen permanent überschreibt und damit enttäuscht. Das altkabbalistische Ich durch Du Martin Bubers, sein Satz: nur da ich Du bin, kann ich ganz Ich sein, er ist es, der in diesen Fotos als ein leiser Zug durch die Welt der Steine weht und ihre Dinglichkeit (und unser am Dinglichen haftendes Denken) aufhebt.

Stein und potentielles Gesicht sind untrennbar miteinander verschmolzen und bilden dadurch eine Gegenwart als latente Erkennbarkeit, die condition sine qua non der Kunst von Werner Klotz. Die Steine im Flusslicht sind dabei wie von selbst erzählende Zeichen der sich permanent selbst organisierenden Natur. Sich selbst ähnlich, erkennen sich kleinste Strukturen, Falten, Narben, Lakunen, Übergänge von glatten in raue Flächen, wie gespannt wirkende Hautsegmente wieder im Großen, den Zonen zoomorpher oder menschlicher Gesichter – deutlich besonders in (CECCINATO,2013 und LUMIO II, 2014) – , denen wir in einfühlender Nahsicht zu begegnen wünschen. Statt in Vorder- und Hintergrund teilen sich die Bilder wie von selbst in Sehfeldstellen mit unterschiedlichen Erregungszonen, aufgeladen durch die Kraft der Erwartung auf etwas Wirkliches. Die Formen verwandeln sich, wie geführt von unsichtbaren Magneten, um das Fragende, Sein-Wollende im Zuschauer anzurühren. Die Erreichbarkeit des Betrachters, und mit ihr dessen Erweckung, wäre undenkbar ohne diesen Sog spontaner Entsprechung, dieser überraschenden, gefühlsmäßigen Ähnlichkeitserfahrung in spe. Was wir erleben ist der ersehnte Augenblick des gefühlten Ankommens, des geglückten Erreichens unserer selbst als Nachhall dieser zu Form und Farbe gewordenen Möglichkeitsräume und der intimen Seherwartungen auf Erfüllung und Entsprechung, mit denen sie uns in uns selbst zurücktragen.