BILDLICHE DIVIDUATIONEN
Zu Werner Klotz‘ Ausstellung Das Auge ist ein seltsames Tier
Seit Dsiga Vertovs avantgardistischem Film Der Mensch mit der Kamera, den er in den 1920er Jahren der jungen Sowjetunion und ihrem Fortschrittsglauben widmete, ist die Idee einer gewissen Selbstläufigkeit der technischen Transportmittel und ihrer unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum Sujet moderner Kunst avanciert. In Vertovs Film sieht man die Kamera alle nur möglichen Blickwinkel einnehmen, auf Türme und fahrbare Untersätze klettern, um den Puls der Zeit und seine Beschleunigung möglichst umfassend einzufangen. Der Kameramann erscheint als ihr bloßer Operateur, als Hilfsarbeiter, der ihrem Willen nach Einblick und Überblick zu unterstehen hat. Vor allem aber lässt Vertov, im Glauben an die soziale Schubkraft moderner Technologie, die Maschinen und Transportmittel ineinander greifen, als Zahnräder des gesellschaftlichen Gefüges, und zeigt dabei Ungleichzeitigkeiten, Reibungen, daraus hervorgehende elektrisierende Spannungen auf. Straßenbahnen dürfen sich in Splitscreens gegenläufig bewegen und das filmische Doppelbild schier auseinander reißen. Mit der gegenläufigen, ungleich schnellen Bewegung zeitgenössischer Transport- und Übertragungsmedien und ihren Reflexionsverfahren spielt auch der Künstler Werner Klotz.
Denn seine Ausstellung Das Auge ist ein seltsames Tier. Fotografien und Wahrnehmungsinstrumente von Werner Klotz im Arp Museum Bahnhof Rolandseck weist sich zunächst dadurch aus, dass ihre Räumlichkeit zwischen zwei Durchfahrtsstraßen und Zeitvektoren liegt, den Gleisen der Bahn und dem Wasserlauf des Rheins. Die auf ihnen verkehrenden Fahrzeuge verleihen dem Ausstellungsraum, der Fenster nach beiden Seiten aufweist, bereits eine besondere Bewegtheit und kuriose geschwindigkeitsabhängige Verschobenheit in sich. Diese wird nun weiter dadurch unterstrichen, dass sechzehn Spiegel in ihm aufgestellt werden, die je nach Ausrichtung die spezifische Außenbewegung ins Innere übertragen, ausschnittsweise wiederholen und gegen das Spiegelbild einer anderen Bewegung werfen. Zusammen mit den natürlichen Lichtreflexen verdichten sie den Raum zu einem ästhetischen Knotenpunkt, der entsprechend der eingefangenen und zurückgeworfenen Bilder zu funkeln und über sich hinauszuwachsen beginnt.
Das ist aber noch nicht alles. Denn zusätzlich wird das Ausstellungsdisplay durch die Betrachter*innen bewegt. Diese setzten nun die Spiegel in Gang, die dank eingebauter Sensoren reagieren, ins Vertikale oder Horizontale schwenken und den Raum weiter dimensionieren. Als mechanische, ferngesteuerte Ballerinas versetzen sie den Raum in eine sich fortgesetzt modifizierende Tanzchoreographie, multiplizieren die Bewegungen, die die Edelstahloberflächen durchqueren, hin zu einem schillernden Raum-Zeit-Gefüge, einer scharfen und bestechenden Chronotopie. Vertovs Kamera hätte ihren Spaß an diesem sensorischen Ballett gehabt.
Da die heute verbesserten Sensoren heute über größere Distanzen hinweg reagieren und die Spiegel tatsächlich in eine scheinbar selbstläufige Bewegung versetzen, wobei die konvexen und konkaven Ausbuchtungen ihrer Oberflächen das Licht noch vielfältiger brechen, auch an die Decke oder auf den Fußboden projizieren, scheint das Wasser des Rheins nun das Innere des Ausstellungsraums zu fluten und einen Aquariumseffekt zu generieren. Wasserbewegungen über den Köpfen und unter den Füßen der Besucher*innen, durchkreuzt von Booten, Zügen, anderen Personen und diffusen Ansichten der umgebenden Landschaft – wenn das kein virtual-reality-nahes Verwirrspiel erzeugt!
Mit dieser genialen Inszenierung eines technologisch informierten und Technologie zurückspielenden Kaleidoskops, in dem sich die Bilder scheinbar selbsttätig begegnen und aneinander brechen, bindet der Künstler Werner Klotz unabsichtlich an eine philosophische Position zurück, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ihrem Impuls eines vitalistischen Denkens sehr populär geworden ist. Die Rede ist von Henri Bergsons Schrift Matière et Mémoire (1895)/Materie und Gedächtnis. In ihr geht der französische Philosoph, der das Bildliche mit Materie überhaupt identifiziert, von einer unendlich gegebenen, allseitigen Bildreflexion aus, die erst durch das Dazwischentreten des Menschen und seiner nicht-lichtdurchlässigen Körperlichkeit gebündelt und einseitig zurückgeworfen wird.
In Klotz‘ Ausstellung wird die Bildreflexion von ihrer Fokussierung auf menschliche Betrachter*innen und auf anthropomorphe Sichtweisen ansatzweise erneut befreit. Nun verfügen nicht nur technologische Reflektoren über differentielles Sehvermögen, sondern werfen Bilder von Personen gleichwertig mit anderen Bildern in alle Richtungen des Raums und bringen eine Bildmaterialität jenseits eindeutiger Autorschaft hervor. Diese bestimmen über das sensorische und affektive Ambiente, lassen die Besucher*innen zu Teilhaber*innen an einem visuellen Gesamtgeschehen werden, in dem sie, orientierungs- und schwerelos, von Bahn und Schiff durchquert, von Wasser umspült, über die Decke spazieren dürfen. Dieser Lichtkörpertanz gewinnt damit eine weitere erkenntnistheoretische Dimension: Kann er doch als ein Statement zur zeitgenössischen, häufig zu wenig bedachten Verflechtung von menschlicher und technischer Sphäre, als Ausdruck von deren normal gewordener und im besten Fall bereichernder wechselseitiger Hervorbringung gelesen werden.
In Weiterführung von Bergsons Philosophie hat der französische Philosoph Gilles Deleuze davon gesprochen, dass im Medium des Films, das ja von der Bewegung und Metamorphose alles Lebendigen und von dessen – allerdings standardisierter – Wiedergabe lebt, die einzelne Einstellung nie zum Stillstand gelangt. Die Bewegung sei virtuell bereits in jedem analogen Bildkader festgehalten und werde in der Filmprojektion nur aktualisiert. Was für das analoge Bild galt, gilt umso mehr für das digitale Bild, das ja fortgesetzt neu errechnet wird und nie zu einer definitiven Form gerinnt. Deleuze hat daher dem filmischen Bewegungsbild einen individuellen Ausdruck abgesprochen und es aufgrund der fortwährenden Neuaufteilung seiner ästhetischen Zeichen „dividuell“ genannt.
In Klotz‘ Ausstellung lässt sich nun ebenfalls davon sprechen, dass die Bilder zu keinem Zeitpunkt zu einem unverwechselbaren und fixierbaren Ausdruck gelangen, sondern sich fortgesetzt überlagern, brechen, verdichten, sich modifizierende Ansichten bieten und dabei nie von einem menschlichen Blick Zeugnis ablegen. Die inszenierte Metamorphose erzählt von einer Bildvitalität, die, weil immer im Übergang, zu keinem ästhetischen Ausdruck gerinnt, der individuell genannt werden kann. Vielmehr katalysiert sie eine absichtlich dividuelle Teilhabe der Bilder aneinander, die sich fortgesetzt neu kombiniert und in Abhängigkeit von den zahlreichen genannten Bewegungen immer anders erscheint. Es ist ein Kaleidoskop in Potenz, eine durch das Eigenleben der Teile bedingte unabschließbare Dividuation, die diese Ausstellung freisetzt und uns allerhand von Artikulationsprozessen in Zeiten des Internets der Dinge erzählt.
Deleuze expliziert diesen Vorgang der Dividuation an Filmbildern der Nachkriegszeit, an denen er zu zeigen versucht, dass sie sich tendenziell von der Wiedergabe von Bewegungen der Außenwelt lösen und stattdessen kristallartige Selbstreflexionen des Bildes inszenieren. Als besonders einleuchtendes Filmbeispiel führt er Orson Welles‘ Lady from Shanghai an, in dessen finalem Showdown sich die Protagonist*innen in Spiegeln derart vervielfachen, dass unklar wird, in welche Richtung geschossen und getötet werden muss. In Klotz‘ Ausstellung setzt sich ein verwandtes Dividuationsgeschehen frei, insofern die Spiegel hier ebenfalls als Kristalle und Bildmultiplikatoren fungieren, allerdings nicht im Dienste eines aufmerksamkeitsbindenden Thrilllers, sondern aufmerksamkeitsstimulierender ästhetischer Valeurs.
Die Besucher*innen werden hier in eben jenem Maße mit(ent-in)dividuiert, wie sie als Teilhaber*innen und Anreicher*innen dieses visuellen Dispositivs über dessen Kristallbildlichkeit mitentscheiden. Darin spricht sich die vielleicht wichtigste, von diesem Kunstwerk bereitgestellte Einsicht aus: Jene, dass wir, was auch imemr wir erstreben, letztlich bestenfalls Teilhaber*innen an unverfügbaren ästhetischen Ereignissen sind.
Michaela Ott: Image Dividuations
On Werner Klotz’ exhibition Das Auge ist ein seltsames Tier (The Eye Is a Strange Animal)
The idea of a certain autonomy of the technological transport media and their different speeds was first made a subject for modern art in Dziga Vertov’s avant-garde film Man with a Movie Camera, created in the 1920s in the service of the young Soviet Union andits faith in progress. In Vertov’s film, one sees the camera adopting every possible viewing angle, mounting towers and vehicles in order to capture the pulse of time and its exhilaration as comprehensively as possible. The cameraman features purely as its operator, an auxiliary subordinate to view and overview according to the camera perspective. Above all, however, Vertov, a believer in the social energising power of modern technology, shows the machines and means of transport interlocking, as cogs in the social fabric. In the process, he reveals non-simultaneities, frictions, and the resulting electrifying tensions. Split screen shows trams moving in different directions, and the filmic double image simply tears apart. Similarly, Werner Klotz is an artist who plays with the contrary movement, at varying speeds, of contemporary transport and transference media and their processes of reflection.
After all, his exhibition Das Auge ist ein seltsames Tier. Fotografien und Wahrnehmungsinstrumente von Werner Klotz (The Eye Is a Strange Animal: Photographs and Perception Instruments of Werner Klotz) at the Arp Museum, Rolandseck railway station, is primarily characterised by a venue located between two thoroughfares and time vectors: the railway track and the watercourse of the Rhine. Of themselves, the vessels that traverse them lend the exhibition rooms, which feature windows on both sides, a special quality of mobility and a curious speed-dependent displacement. This is further emphasised by the 15 mirrors set up within the space, which, depending upon their orientation, transfer the specific exterior motion into the interior, together with light, cloud, and hill motions, repeating sections of them and projecting a different motion against the reflection. The diversity of the captured and partially overlapping images concentrates the spatial architecture, which begins to fragment and to multiply, to shine, and to grow beyond themselves.
This, however, is not all. Additionally, the mirrors – and the whole exhibition display – can be moved by the viewers, who place the mirrors in motion: thanks to integrated sensors, they react to anyone approaching them, turning vertically on their axis or swivelling horizontally, giving the spaces different dimensions. Like rows of mechanical, remote-controlled ballerinas, they subject the central main room to a continuously modifying choreography: image sequences that depend upon their rotation cross their stainless steel surfaces, continuing, time-displaced, in other mirrors, embedding mobile squares or inner windows into the spaces. These “rotating mirrors” produce a spatiotemporal fabric that contains the world, a chronotopia whose pages open slowly and contemplatively.
By contrast, the three mirrors assembled in the side room on the north side project their immediate surroundings in distorted form from the controlled distortion of their surfaces: people and wall and floor features alike are transformed into ornamental bubbles and streaks, losing their recognisable form and forming light and time ciphers. And, finally, in the side room on the south side, we encounter a kind of technical laboratory, with horizontally swivelling mirrors which, in their turn, engage in games with a mirrored wall in the outside space, but also flirt with accompanying optical devices. Vertov would have enjoyed these independent image operators.
Because the improved sensors of today respond over greater distances, they actually initiate a seemingly autonomous movement, also tending to project the captured images onto the ceiling or the floor. The waters of the Rhine thus appear to flood the interior of the exhibition space and, supplemented by individual water photographs, to create something approaching an aquarium effect. Water movements above the heads and beneath the feet of visitors are traversed by boats, trains, wall pillars, other persons and diffuse views of the surrounding landscape – a positive virtual reality game of confusion!
In this inspired presentation of a technologically informed and technologically-reflected kaleidoscope, in which the images move and collide seemingly of their own volition, the artist Werner Klotz unintentionally connects with a philosophical position that became very popular in the early 20th century because of the movement toward vitalistic thinking. I am speaking of Henri Bergson’s text Matière et mémoire, 1895. In this text, the French philosopher, who identifies the figurative with the material per se, presumes an endlessly given, omnidirectional image reflection, which is bundled and thrown back in a unidirectional way by the supervention of human beings and our physicality, which is not permeable to light.
In Klotz’s exhibition, image reflection is freed anew from its focus on human observers and anthropomorphic perspectives. It is not just that technological reflectors possess different visual capacities; they also cast images of people in all directions within the space, on an equal basis with other images, thus producing an image materiality beyond unambiguous authorship. These determine the sensory and affective ambient, allowing the visitors to become participants in a visual overall happening in which they can stroll across the ceiling, without orientation and weightless, traversed by rail and ships, surrounded by water. This dance of bodies of light thus gains a further epistemological dimension: after all, it can be read as a statement on the contemporary, often too little considered intermingling of the human and technological sphere, as an expression of its reciprocal production, which has become normal and which, in the best case, enriches us.
Extending Bergson’s philosophy, the French philosopher Gilles Deleuze spoke of the individual take never coming to rest in the medium of film, which, after all, depends upon the movement and metamorphosis of all living things and their – admittedly largely standardised – reproduction. The movement is thus virtually recorded in every analogue image frame and is merely actualised in the film’s projection. What applies to the analogue image is still more true of the digital image, which is continuously newly computed and never coalesces into a definitive form. Consequently, Deleuze denied the filmic movement-image an individual expression, and, owing to the continuous new dividing-up of its aesthetic sign, described it as “dividual.”
In Klotz’ exhibition, we can also speak of images that do not achieve an unmistakable and fixable expression at any point in time, and instead continuously overlay one another, breaking up, condensing, offering different views, and thus never bearing witness to a human gaze. The staged metamorphosis tells of a vitality of the image that, because it is always in transition, cannot be called individual. Instead, it catalyses an intentionally dividual participation of the images through each other, continuously creating new combinations and always presenting itself differently depending on the numerous named movements. What this exhibition releases is a kaleidoscope in its potential, a non-concludable dividuation occasioned by the autonomous life of the parts. It tells us a great deal about articulation processes in the age of the Internet of Things.
Deleuze explains this process of dividuation based on film images from the post-war years, endeavouring to show that they tend to detach themselves from the reproduction of movements in the outer world and instead stage crystal-like self-reflections of the image. As a particularly illuminating example, he gives Orson Welles’ The Lady from Shanghai (1947); during the film’s final showdown, the protagonists are multiplied by mirrors in such a way that it is not clear in which direction they must shoot, or kill. In Klotz’s exhibition, a related dividuation event is unleashed, with the mirrors similarly functioning as crystals and image multiplicators, not in the service of an attention-grabbing thriller, but of an attention-stimulating aesthetic value.
Here, the visitors are co(de-in)dividuated to the extent to which they co-decide, as participants and enrichers of this visual dispositive, its crystallised image character. This expresses perhaps the most important insight offered by this artwork: that, however we may strive to escape it, we are ultimately at best participants in aesthetic events that we do not command.